Über Yoga

Warum ist es gut, Yoga zu praktizieren?

Ein Essay von Wida Schalk-Naderi

Der zur Reflexion fähige Mensch ist in seiner eigenen Existenz mit fundamentalen Fragen konfrontiert. Es geht um die großen Fragen nach Gott, der Seele, dem Ursprung und der Bestimmung des Menschen. Um sich zu entwickeln – auch unabhängig von einem Welterklärungssystem basierend auf dem Gottesbegriff – ist es notwendig, die eigene wahre Identität (das Selbst) zu erkennen und den Geist und die Psyche in einen ruhigen Zustand zu bringen, so dass neue Erkenntnisse gewonnen werden können.

Unsere gesamte Erkenntnis von der Welt basiert auf Erfahrungen, die wir machen. In diesem Prozess sind unsere Sinne und der Verstand einbezogen. Infolge des Datenmaterials, das uns geliefert wird, verstrickt sich das Individuum in Zeit, Raum und Kausalität. Dadurch ist die Wahrnehmung dazu geneigt, sich in Täuschungen und Illusionen zu verirren. Die Folge ist, dass wir nicht in der Lage sind, die Dinge zu sehen wie sie sind. Die Welt nehmen wir wie durch einen Schleier wahr. Die Erscheinungen, die wir wahrnehmen, führen dazu, dass wir ein unspezifisches Gefühl von Unwohlsein und folglich eine Unruhe im Geist kreieren. Dauerhafte Illusionen über die wahrgenommen Dinge in der Welt bewirken seelisches und körperliches Ungleichgewicht. Unser Körper reagiert auf diese Inputs mit psychischen und physischen Erkrankungen. Diese empfinden wir als ein Hindernis im Leben und als eine mögliche Quelle des Leidens. Aber der Mensch selbst kann als denkendes und fühlendes Wesen die Leidensspirale beenden. Dazu ist es notwendig, die Wahrnehmung und das damit verbundene Gefühl zu verändern.

Um eine „Schau der Wahrheit“(1) zu bewirken, d.h. ungetrübt die „Wirklichkeit“ im Augenblick zu sehen, „ohne hemmende Bindung an die Vergangenheit, ohne eingeschliffene Gewohnheiten oder eine überkommene Weltanschauung“(2) zu leben, ist es notwendig, den Geist zur Ruhe zu bringen.

Eine Möglichkeit der nachhaltigen Veränderung der Wahrnehmung ist uns durch die Praxis von Yoga gegeben. Dies belegen die Psychologie und die moderne Hirnforschung. Psychologische Methoden untersuchen Meditierende und stellen neurologische Veränderungen fest. In diesem Zusammenhang zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass es durch Yoga (Meditation) zu einer Verschiebung der Hirnaktivität kommt. Die Folge ist, dass wir selbst durch die Praxis der Meditation die sogenannten Negativaffekte wie Furcht, Angst, Neid, Verzweiflung, Hass und Enttäuschung zu positiven Affekten wie Zufriedenheit, das Gefühl liebevoller Güte, das Gefühl der Verbundenheit und des Wohlwollens, das Gefühl von Liebe, Mitgefühl und gelassene Heiterkeit umkehren können.(3)

Yoga als Wissenschaft lehrt, dass das ganze Universum ein Selbst ist und dass der Schlüssel zum kosmischen Wissen in unserem Geist und in unserem Herzen liegt. Yoga ist eine Achtsamkeits-Methode, die alle höheren Kräfte, die uns innerlich und äußerlich zur Verfügung stehen, wachrufen kann. Als Technik der Transformation deckt sie den Körper, die Sinne, die Gefühle, die Seele, den Geist und die höchste Selbstverwirklichung ab. Sie enthält alle Methoden der höheren Evolution: Körperhaltung (asana), Atemübung (pranayama), Ethik, Schulung der Sinne, Affirmationen, Visualisierung, Gebet, Mantras und komplexe Arten der Meditation.

Yoga, nicht als eine Religion oder ein strenges philosophisches System verstanden, sondern als eine grundlegende Disziplin, als eine Körper-, Atem- und Bewusstseinsschulung gibt den Schlüssel zur Hand, um die psycho-mentalen Vorgänge zur Ruhe zu bringen. Durch die Disziplin des Yoga kann der Mensch eine neue Lebensweise beginnen. Der Begriff „Schulung“ deutet darauf hin, dass es auf die Regelmäßigkeit der Übung ankommt. Unter den zahlreichen Meditationspraktiken ist der klassische Hatha-Yoga-Weg einer der wichtigsten Heilverfahren. Der im Westen populäre, von körperlichen Übungen (asanas) dominierte Weg gilt zugleich als ein schneller Weg (sogenannter Königsweg) zum Erfolg. Um eine Stressreduktion zu bewirken, den Körper zu entspannen und zu reinigen, ist es ratsam, so oft wie möglich im optimalen Fall täglich Yoga zu praktizieren.

Yoga als ein Übungsweg kann zur tiefen Selbsterkenntnis und zur geistigen Freiheit führen.(4) Die gewonnene geistige „Klarheit und Unabhängigkeit“(5) haben zur Folge, dass die „Konditionierungen und unheilvolle Verhaltensmuster bewusst gemacht und aufgelöst werden“(6) können. Die körperlich vegetative Schulung kann zur Genesung des Körpers, zur Gelassenheit und zur Erfahrung tiefer Freude führen. „Nichts Geringeres kann das menschliche Herz befriedigen. „Es gibt keine Freude im Endlichen; Freude gibt es nur im Unendlichen.“ Das ist die Botschaft der Upanischaden. Das Unendliche – frei, unbegrenzt, voller Freude – ist unser angeborener Zustand. Wir sind aus diesem Zustand herausgefallen und suchen ihn überall: Jede Menschentätigkeit ist eine Bemühung, diese Leere zu füllen. Aber solange wir sie von außerhalb unserer selbst her zu füllen versuchen, stellen wir Ansprüche an das Leben, denen es nicht gerecht werden kann. Endliche Dinge können nie einen unendlichen Hunger stillen. Nichts kann uns befriedigen als eben nur die Wiedervereinigung mit unserem wahren Selbst, das, wie die Upanischaden sagen, Sat-Chit-Ananda ist: absolute Wirklichkeit, reines Gewahrsein, unkonditionierte Freude.“(7)

Die Wirkung von Yoga als ein durchdachtes System der Persönlichkeitsentfaltung auf den Körper stellt nur eine Stufe dar. „Das nahe und zugleich ferne Ziel ist das Idealbild aller Religionen, der Weg des Menschen zu seinem Ebenbild, zu Gott. – „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Matth. 5,48)“(8) In diesem Zusammenhang schreibt Wladimir Lindenberg: Jede Religion ist in ihrem Lehrgehalt eine Yogalehre, eine Lehre der Entwicklung zum höheren Menschen aus dem niederen, stoffverhafteten „alten Adam“. Sie lehrt in fast wörtlicher Übereinstimmung die Liebe zu Gott, die Liebe zu den Menschen, nicht nur zu der eigenen Familie oder Rasse oder Volk, die Liebe zu der Kreatur, die Achtung des fremden Lebens und Eigentums, die Beherrschung der Triebe und Affekte und den Weg zu Gott.“(9)

Die unzähligen Religionen und Yoga haben die Erneuerung des Geistes zum Ziel. Schließlich liegt unsere Aufgabe darin, uns selbst und den Planeten zu transformieren. In unserer Zeit der Krisen und des Übergangs können wir uns selbst schulen. Der erste Schritt ist, damit zu beginnen, unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst zu richten und uns sowie unserer Umwelt mit Achtsamkeit zu begegnen.

1) Patañjali: Die Wurzeln des Yoga, Die klassischen Lehrsprüche des Patañjali- Die Grundlage aller Yoga- Systeme. 11. Auflage, Otto Wilhelm Barth Verlag, Ulm 2005, S. 13.
2) Patañjali: ebd., S. 1.
3) Vgl.: Ott, Ulrich: Yoga für Skeptiker, Ein Neurowissenschaftler erklärt die uralte Weisheitslehre. Otto Wilhelm Barth Verlag, München 2013, S. 68f.
4) Vgl.: Ott, Ulrich: ebd., S. 19.
5) Ott, Ulrich: ebd., S. 61.
6) Ott, Ulrich: ebd., S. 61.
7) Eknath Easwaran, : Die Upanischaden. Arkana Verlag, München 2008, S.40.
8) Lindenberg, Wladimir: Yoga mit den Augen eines Arztes, Eine Unterweisung. Richard Schikowski Verlag, Berlin 1966, S. 7f.
9) Lindenberg, Wladimir: ebd., S. 17.

Literaturempfehlungen:

Easwaran, Eknath: Die Upanischaden. Arkana Verlag, München 2008.

Lindenberg, Wladimir: Yoga mit den Augen eines Arztes, Eine Unterweisung. Richard Schikowski Verlag, Berlin 1966.

Ott, Ulrich: Yoga für Skeptiker, Ein Neurowissenschaftler erklärt die uralte Weisheitslehre. Otto Wilhelm Barth Verlag, München 2013.

Patañjali: Die Wurzeln des Yoga, Die klassischen Lehrsprüche des Patanjali – Die Grundlage aller Yoga-Systeme. 11. Auflage, Otto Wilhelm Barth Verlag, Ulm 2005.